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Hinter dem Spiegel

Als wir das Gästehaus entrümpelten blieb ein Spiegel über, den ich zu schade zum Wegwerfen aber nicht schön genug fürs Haus fand. Daher bekam er kurzerhand draußen unter dem Korkenzieherhasel einen neuen Platz und sieht nun der aufgehenden Sonne entgegen. Eine Markierung aus Trittsteinen führt zu ihm. Beschreitet man den kurzen Weg, meint man, sich auf einen engen Durchlass zuzubewegen, hinter dem sich eine weitere Welt befindet und beinahe fühlt man sich kleiner werden, um durch das Tor zu schlüpfen wie eine Alice hinter den Spiegel. Dann könnte man sich wie die weiße Königin darin üben, schon vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge zu glauben, wollte ewig beim Fünf-Uhr-Tee sitzen und die Uhren zeigten Tage und nicht Minuten an. Komm' ich heut' nicht, komm' ich morgen wäre dann nur eine kleine Unpünktlichkeit, die nicht weiter ins Gewicht fiele. Man könnte in den Tag hineinleben und vergessen, dass jede Minute zählt, Zeit Geld ist und eine zehntel Sekunde über Sieg oder Niederlage entscheidet. Im Wunderland würde man sich von all der Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit seines Lebens erholen, den hochgeschätzten gesunden Menschenverstand mit Absurditäten strapazieren, bis er aufhörte sich zu ärgern und nur ein freundliches Staunen übrig wäre. Herrlich entspannt, aller Altlasten ledig und gänzlich unvoreingenommen würde man sich bei der Rückkehr sicher wundern über die Hölle, die wir uns mit all der Hetze und dem Streben bereiten und rasch wieder verschwinden wie die Grinsekatze und nur ein Lächeln bliebe zurück.  

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Kommentare: 1
  • #1

    Stefanie (Sonntag, 19 August 2018 08:52)

    ... ich will auch so einen Spiegel!!....