
In diesem Jahr vermisse ich die Möhren- und Rote Bete-Felder in der näheren Umgebung. Dafür gab es zuerst viel Getreide, und jetzt Kartoffeln, Zwiebeln, Zuckerrüben und Mais. Letzterer verändert die Landschaft am meisten von allen Pflanzen auf den Äckern, weil er neben den Wegen aufragt wie eine Wand und die Augen der gewohnten Weite beraubt. Alle Felder lassen sich überblicken, nur der Mais nicht. Und auch hindurchschauen kann man nicht. Er erinnert mich mit seinem von der Sonne gesättigtem Grün und den verschiedenen Tönungen in lila und gelb an einen dichten Dschungel. Aber anders als ein Urwald, der als komplexes, sich selbst erhaltendes System eine Art Metawesen bildet und der Unsterblichkeit näher ist als der Endlichkeit, ist der Mais in Monokultur wie eine einsame Ameise, die ihrem Staat verloren ging. Sie lebt und stirbt früh - ohne einer größeren Sache gedient zu haben. Immerhin, der Mais ernährt den Menschen, direkt oder indirekt. 60 % der Maisernte wandert in die hungrigen Mägen von Schlachttieren, deren Leben ebenfalls keiner größeren Sache als der dient, mit ihrem Fleisch die Menschen der westlichen Welt zu verwöhnen. Ein gehöriger Rest des Maises wird zu einer großen Palette billiger Lebensmittel verarbeitet, die eine Vielfalt vortäuscht, die in Wahrheit aber im Verschwinden begriffen ist durch die Verdrängung alter Obst- und Gemüsesorten, der Vereinheitlichung des Getreidemarktes und der Massentierhaltung, die das Aussterben regionaler Haustierrassen zur Folge hat. Überall Masse statt Klasse. Nach Nietzsche sind auch wir nichts anderes: Herdentiere - das Seil, das zwischen Affe und Übermensch geknüpft ist und dem wir nicht mehr sein werden als "ein Gelächter und eine schmerzliche Scham". So wird der Übermensch einmal zurückblicken auf unsere Zeit wie wir auf das Leben der Frühmenschen herabschauen und wohl gelegentlich einzelne kulturelle Leistungen, z.B. die Höhlenmalerei würdigen, ihr Leben aber als primitiv empfinden. Er wird uns als insgesamt rückständige, ungebildete, irrationale, grausame, zerstörerische Spezies ansehen, die überwunden werden musste. Dass wir das heute nicht so empfinden, ist der Einschränkung unseres Verstandes geschuldet, sich nur in die Vergangenheit erinnern zu können. Wir malen sie grau und sehen uns am Ziel einer langen glorreichen Entwicklung. Der Istzustand muss der beste sein, sonst wäre er nicht und wir müssten am Leben (ver)zweifeln. Mit den Übermenschen einer Zukunft vergleichen wir uns nicht, denn was wir nicht erinnern können, gibt es für uns nicht. Aber mit etwas mehr Phantasie, vorausschauendem Denken und Bescheidenheit könnte man ihr gedanklich näher rücken und dann müsste einem zumindest öfter peinlich sein, was wir tun oder wie Nietzsches Herdentier so klaglos mittragen. Meine gute weise Freundin würde allerdings fragen: Und, was nützt uns das?
Kommentar schreiben
Ursula Kukureit (Freitag, 07 September 2018 18:47)
Hallo Anja, immer wieder gern lese ich deinen blog und bewundere deine philosophischen Gedanken und denke mir: "besser hätte ich es nicht ausdrücken können". Bitte mach weiter mit deinen schönen Fotos, die das Auge auf die Details lenken.
Danke und liebe Grüße von Ursula