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Was, wenn es niemals kippt?

Wer kennt sie nicht, die Kippbilder, bei denen man mal das eine, mal das andere Objekt erkennt, niemals aber beide gleichzeitig. Ente oder Hase, junge oder alte Frau, Gesichter oder Vase etc. Man weiß, beide Bilder sind da, wahrnehmen kann man aber immer nur eines von ihnen. Was, wenn es niemals kippt? Dann bleibt einem eine Seite der Wirklichkeit verborgen.

Was wir sehen ist nicht die Welt wie sie ist, eher sind die Sinneseindrücke ein Ideenpool, aus dem sich das Gehirn bedient, um mit ihrer Hilfe ein Bild zu konstruieren, das wir verstehen können, das dem Zeitgeist und unserer eigenen Erfahrung entspricht. Vor allem aber soll uns dieses Konstrukt, von der wir annehmen, es sei wahr und vollständig, dienen. Keinesfalls darf es uns Angst machen. Fremdes, Erschreckendes, nicht Geglaubtes wird mit kleinem Aufwand beinahe fehlerfrei so lange es geht wegretuschiert. Nur manchmal beschleicht uns eine Ahnung, dass das nicht alles sein kann. Man sieht nur, was man weiß, erkannte schon Goethe. Wem das Gehirn seine ordnende Kraft, seine sorgfältige Auswahl der Eindrücke verweigert, wie es jemandem gehen kann, der mit schizophrenen Schüben lebt oder schamanisch unterwegs ist, der sieht sich plötzlich mit all dem Realen konfrontiert, das ihm sonst schützend vorenthalten wird. Ein Schamane lernt, das auszuhalten, zu verstehen und zu nutzen, der Schizophrene schwimmt in einem Meer von Angst, in dem er leicht untergehen kann. So fürchten möchte man sich nicht, aber vom Gehirn wie ein unmündiges Kind durchs Leben geführt werden, ist auch kein schöner Gedanke. Mehr sehen, dahinter schauen, aber nicht ver-rückt werden, kann man das üben?

Wenn ich am Schreibtisch sitze und aus dem Fenster blicke, dann sehe ich in unserem Garten den großen Stein, den wir in der Erde gefunden haben. Bis gestern war er ein Findling. Dann sah er mich an mit seinem nachdenklichen alten Gesicht und da kippte das Bild. Nun ist er nie wieder nur ein Stein. 

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