· 

Die Entzauberung der Lesesteine

Seit ich zum ersten Mal vor rund drei Jahren einen Kartoffelroder übers Feld ziehen sah, hatte sich der Vorsatz verfestigt, einmal auf einem mitzufahren. Jetzt bot sich die Gelegenheit und ich trug meine Vorfreude auf diese - so meinte ich - archaische Arbeit gleich weiter, um prompt mit einem "damals" von einer nicht viel älteren Frau als ich selbst, meiner idyllischen Vorstellungen beraubt zu werden. "Damals" nämlich, als sie ein Kind war, wurden die Kartoffeln noch per Hand geerntet. Die Kinder bekamen eine Reihe zugeteilt, die Erwachsenen zwei, nachmittags gab es frisch gebackenen Butterkuchen und abends ein Kartoffelfeuer. So musste das sein! Für das schwere Gerät, das schnaufend, ratternd und Böden verdichtend über die Äcker fährt und die Kartoffeln mit Maschinengewalt dem Boden entreißt, hatte sie nicht viel übrig. Früher war man körperlich mit der Erde verbunden, man fühlte sie und sah die kleinen Dinge. Und man war dankbar, wie man es heute gar nicht mehr kennt. Rituale und Feste, die untrennbar zu den verschiedenen Tätigkeiten gehörten, verbanden einen mit der Gemeinschaft und der Natur. Arbeit war nicht Arbeit, sondern einfach nur das Leben. Und natürlich hatte es Sinn, weil man mit wesentlichen Dingen beschäftigt war. Irgend ein kluger Mensch, dessen Name ich vergessen habe, unterschied zwischen  "Hungergesellschaft" und "Angstgesellschaft". Ich glaube, trefflicher hätte sie an dieser Unterscheidung nicht rühren können. In einer Hungergesellschaft ist die "einzige" Sorge, genug Essen auf den Tisch zu bekommen. Ihr kann man auf vielerlei selbsttätige und kreative Weise begegnen. Seit dem ist viel passiert. Wir haben uns mit Dingen umgeben und Sicherheiten und Komfortzonen geschaffen. Sie aber nähren die Angst, all dieses zu verlieren und hilfloser denn je zurückzubleiben.

Ich bin trotzdem auf dem Roder mitgefahren und da ich noch nie Butterkuchen auf dem Feld gegessen habe und sich mir auch keine romantischen Bilder hell leuchtender Kartoffelfeuer unauslöschlich eingeprägt haben, wird mir die kurzweilige Arbeit, Kluten und Steine aus den auf einem Fließband vorbeiziehenden Kartoffeln zu sammeln und dabei die milde Herbstsonne im Gesicht zu spüren, in guter Erinnerung bleiben.         

Kommentar schreiben

Kommentare: 0