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Gestatten, Gundermann! Mein zauberhafter Nachbar

Ein Steckenpferd ist eine herrliche Sache. Man geht voller Neugier und geradezu süchtig nach  Impulsen für die frisch erwachte Leidenschaft durch die scheinbar bekannte Welt und kommt aus dem Staunen nicht heraus, wie viel es zu entdecken und zu lernen gibt. Und genau das, so meint Erich Fromm, ist es, was der Mensch zu einem erfüllten Leben braucht: Eine aus innerem Antrieb ins Außen gebrachte Aktivität, die Ver-wirklich-ung unserer ureigensten Wünsche und Möglichkeiten. Wer nach dieser Definition zur Arbeit geht und sich wohl höchst umtriebig und fleißig abmüht, aber sein eigenes inneres Fühlen und Streben dabei nicht verwirklicht, der ist nur beschäftigt, nicht aktiv. Er ist sogar passiv, meint Fromm, denn er wird gelebt. Und wir fühlen es auch manchmal wie eine Starre, eine Panzerung um unsere Seele. Das Leben ist nicht zu kurz, findet auch Seneca, wir verschwenden es nur mit allerlei Beschäftigungen, statt mit echter Tätigkeit in diesem Sinne. Seit es mir die Wildkräuter und Wildgemüse angetan haben, bin ich allerdings wieder höchst aktiv unterwegs, forsche, sammele und suche an Wegesrändern und Waldsäumen, an den Uferzonen der Hardau und den Wiesen der Umgebung und bin sehr beglückt, wenn ich fündig werde. Dabei halte ich nach dem Gundermann vom ersten Tag meiner neuen Obsession an Ausschau, denn er gehört zu den ersten Kräutern des Jahres und vertreibt nach Hildegard von Bingen winterliche Krankheiten, Müdigkeit, Erschöpfung und Schwäche. In Fachkreisen ist er auch heute noch bekannt, früher aber war er allen ein vertrauter und geschätzter Nachbar. Legenden rankten sich um ihn und seine Zauberkräfte. Wer ihn zum Kranz gewunden trug, dem konnte er in der Walpurgisnacht einen Blick hinter die Kulissen tun lassen, den ließ er Hexen sehen, wo sie sonst niemand fand. Kein Wunder also, dass ich einer Begegnung mit ihm voller Neugier und Spannung entgegensah. Gestern war ich wohl bereit, denn wie magisch angezogen, fiel mein Blick auf seine herzförmigen, am Rand gewellten dunkelgrünen glänzenden Blätter. Er stellte sich mir vor mit einem höflichen "Gestatten, Gundermann" und ich grüßte respektvoll zurück. So bekannt gemacht, lud ich ihn in meinen Garten ein. Er folgte widerstandslos und wohnt nun im Minzebeet beim Gästehaus, wo er mich noch mehr als durch seine Heilwirkung mit der Möglichkeit erfreut, einmal mit seiner Hilfe einer echten Hexe ansichtig zu werden.    

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