
Der erste Blick morgens aus unserem Küchenfenster in Richtung Gästehaus kann mich jeden Tag aufs Neue erfreuen. Die Fläche, die einmal von vertrockneten Kiefernnadeln öde braun mit Einsprenkelungen verschiedener Unkräuter zwischen unseren Häuschen lag, hat nun eine samtig grüne Decke bekommen. Mit einem englischen Rasen hat sie zwar nur entfernt Ähnlichkeit, trotzdem sind wir mit ihrem Aussehen sehr zufrieden. Der Handmäher gleitet leicht darüber hinweg und wenn wir ihn nicht raspelkurz stellen, gleichen die überstehenden Halme die Unebenheiten des Bodens einigermaßen aus. Einen Rasen anzulegen ist also, lässt man gut gut genug sein, keine große Sache. Immerhin favorisiert die Natur sie auch: die Wellen, Rundungen, Dellen, Wendungen und Abweichungen, ist öfter schief als gerade, lieber pompös als knauserig, eher viel- als einfältig - beinahe so, als wäre der kurze, direkte Weg eine grobe Unhöflichkeit, als zeigte sich wahrer Stil in den Floskeln, Ritualen, Galanterien, dem Zierrat drumherum, dem scheinbar Überflüssigen, das sich um den Kern rankt. Man muss sich nur einmal die mäandernde Schleimspur einer Schnecke zwischen zwei Punkten ansehen oder eine Baumwipfelreihe am Horizont - man könnte die Linien nachziehen und sie erinnerten an unbekannte Schriftzüge in einer geheimen Sprache. In Geraden ist das Buch der Natur nicht geschrieben. Es braucht Maschinendenken, um die völlig ebenmäßige scharfkantige Perfektion zu ermöglichen, die uns an moderner Architektur so fasziniert, aber auch auf Abstand hält, die sich bewundern oder kalt, nie aber in ihre warme Umarmung fliehen lässt. In unseren Wald gehört sie gewiss nicht. Ihm ist die Schönheit des vermeintlich Unperfekten gemäß, des im vollendeten Werk abgerutschten Pinsels, des unregelmäßigen mit Löwenzahn und Gänsefuß übersähten Rasens, des Weins, der zur Eröffnung der Tafel über den makellos gedeckten Tisch gespritzt wird. Dann können die Gäste aufatmen - zu gut ist eben schlechter als gut.
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Sandy (Samstag, 20 Juli 2019 08:11)
Werner hat Recht, Rasen ist doch schöner als Kies.
Ursula Kukureit (Samstag, 20 Juli 2019 18:06)
Hallo Anja, diese Überlegungen hat Friedensreich Hundertwasser auch schon angestellt, und ihr habt beide recht damit.
G (Sonntag, 21 Juli 2019 10:19)
Ein richtiger sonntagsblogbeitrag mit den zauberhaftesten gedankenwegen- einfach wunderbar!
Nüket (Mittwoch, 24 Juli 2019 22:26)
Es grünt so grün :)