
Als ich klein war hatten Kinder noch viele Freiheiten, die heute selbst auf dem Land beinahe vergessen sind, denn auch hier stiehlt schon den Jüngsten der Ernst des Lebens die meiste Zeit, verwandeln Verlockungen und Bequemlichkeiten medialer Angebote bewegungshungrige Freigeister in zufriedene Stubenhocker und löschen ängstliche Erwachsene, die der Welt draußen nicht mehr zutrauen, ihre Kinder unbeschadet groß werden zu lassen, die letzten Funken Abenteuerlust in den Kinderherzen. Zu viel hat man schon gehört und Gottvertrauen hat keiner mehr. Wir dagegen durften nachmittags noch unbeaufsichtigt herumlaufen und heute wundere ich mich fast, wie unbesorgt unsere durchaus besorgte Mutter doch sein konnte. Vor den Straßen mit ihren Autos wurden wir gewarnt, aber im Wald, auf Feldern und Wiesen, bei den Pferdekoppeln, beim Balancieren am Bachufer oder beim Waten durch die versteckt im Busch liegenden Teiche schien uns nichts passieren zu können. "Weit" weg von zu Haus, kein Mensch in Sicht und auf Zuruf nicht verfügbar, bewegte ich mich in dieser Wunderwelt mit nicht nachlassender Faszination. Besonders das was sich rund um und in den fließenden Gewässern oder stehenden Tümpeln bewegte, übte auf mich einen unwiderstehlichen Reiz aus und musste, wenn möglich, mit nach Haus genommen werden: Zuerst Teichschnecken und Wasserpflanzen, die ich in unserem Hof in Blechschüsseln setzte, dann Stichlinge und Neunaugen und glibberiges Froschlaich. Die Gefangenen wurden bestaunt, beobachtet und bewundert, mal lange gepflegt, mal bald wieder ausgesetzt. Und sie bescherten mir an einem schönen Sommertag die erste bis heute in Erinnerung gehaltene frommsche Lektion vom "Haben oder Sein". Ich ging barfuß durch meinen Lieblingsbach. Sein Wasser war glasklar und leuchtete in der Sonne silbern. Er sprudelte, murmelte und gluckste in seiner Sprache vor sich hin. Auf seiner Oberfläche tanzten die Spinnen, Käfer schlugen in ihm Salto, Fischchen schossen pfeilschnell davon. Schnecken zogen seelenruhig über die Steine am Grund, Frösche versteckten sich zwischen den mit der Strömung sanft schwingenden Stängeln der Wasserpest und im Schlick zu meinen Füßen verschwanden unbekannte Tierchen in Kratern, die sich bald schlossen. Der Augenblick, er war so unermesslich schön, so lebendig, froh und leicht, eine Stimmung wie aus einer anderen Zeit und ich mittendrin. Da wurde mir mit einem Mal klar, dass mir das alles gehört, weil ich es erleben kann. Fühlen, sehen, freuen das reicht. Ich musste nichts von all dem mit nach Hause nehmen, es haben zu wollen wäre vergebene Liebesmüh. Das war ein Kapitel aus dem Buch der Natur, das ich damals las und an das ich mich heute erinnere, wenn ich das Funkeln von abertausend Wassertropfen in der Morgensonne bewundere und kein Glitzern eines Diamanten am eigenen Finger mich froher stimmen könnte.
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Gerlinde (Samstag, 01 Februar 2020 12:56)
Du findest die treffenden Worte für das, was alle empfinden! Tut gut!
Ammo (Freitag, 14 Februar 2020 17:57)
Tolles Foto!