
Welch eine Verwüstung! Und wofür? Für dieses schmale Plastikrohr, das auf dem Foto etwa mittig als kleines mit schwarzer Folie abgedecktes Rund aus dem Boden ragt? Ja, und wie die Spitze eines Eisberges verbirgt es seine wahren Dimensionen unter der Oberfläche. 21 Meter tief ragt es in die Erde und stößt dort auf glasklares Grundwasser - ein Brunnen also. Nur, dass er nicht im geringsten meiner eher romantischen Vorstellungen des in Liedern und Märchen, in Gedichten, auf Gemälden und Erzählungen gepriesenen Bauwerkes entspricht. Die Übermacht der guten Argumente verhinderte Ziehbrunnen und Schwengelpumpe und so werde ich im eigenen Garten Zeuge des Verfalls der guten alten Lebensart zugunsten des Fortschritts. Schlecht ist das nicht! Man wird ja älter und kann nicht mehr mit dem Schwung der Jugend Eimer für Eimer im Garten verschleppen. Aber etwas in mir ruft dennoch: Ich lebe von Schönheit wie von Brot. Das heißt: Ein Brunnen nach alter Art hätte meine Seele genährt. Nun muss ich all die Worte und Bilder, die mit dem "Brunnen" (Quelle/Strömung) in mir aufsteigen, ohne ein stoffliches Gegenüber in Kopf und Herz verwahren. Das tue ich und mache gleich die Probe. Wie viele Märchen fallen mir ein, in denen der Brunnen eine zentrale Bedeutung hat? Wie viele Gedichte und Sprichwörter? Und in der Bibel? Gab es da nicht auch Stellen? Und was noch? Der Jungbrunnen und eine goldene Kugel samt Frosch sehe ich ganz schnell vor meinem inneren Auge und auch Frau Holle und das Blaue Licht. Und immer steht in ihnen der Brunnen für das Unbewusste, für den inneren Lebensvollzug, für emotionale Grenzbereiche und Initiation. Dem Kind in mir muss man das nicht erklären. Es verstand und versteht die Botschaft auch so. Das Leben ist mehr und es ist tief wie ein Brunnen, an dessen Grund lebendiges Wasser fließt. Zumeist fehlt uns diese spirituelle Dimension und dennoch scheinen wir sie nicht zu vermissen. Zu viel haben wir damit zu tun, den Kopf über Wasser zu halten und auf den stürmischen Wellen des Lebens zu surfen. Aber ohne Anbindung an etwas Höheres oder etwas Tieferes sind wir im Grunde verloren, ausgeliefert allem und jedem, der uns zu ängstigen vermag.
Kommentar schreiben
Ursula Kukureit (Dienstag, 09 November 2021 15:43)
Ach liebe Anja, wie wohltuend ist es, deine Texte zu lesen! Und wie froh bin ich, daß du uns weiter in deinem Blog an deinem Leben und deiner Lebenseinstellung teilhaben läßt.
Alles Liebe, Ursula