Lebenslauf

Die alte Uhr hatte schon ein ganzes Leben voller Pflichterfüllung hinter sich, als ich sie vor Jahren vom Sperrmüll rettete. Bei uns bekam sie auf dem Milchschränkchen in unserem Haus ihr Gnadenbrot und zeigte in einer letzten Kraftanstrengung zumindest zwei mal am Tag die richtige Zeit. Im Übrigen war auf sie kein Verlass. Wir schätzten sie trotzdem wegen ihres altmodisch schönen Uhrenkastens und des Wissens um ihr meisterlich gearbeitetes Uhrwerk. Im Schein eines Öllichts, dessen Flamme sich in der gläsernen Abdeckung des Ziffernblattes spiegelte, hatte die Uhr abends etwas magisches, erinnerte einerseits an die Vergänglichkeit, andererseits mit dem sich nie verändernden Zeigerstand an das immer Bleibende.

Irgendwann brauchten wir aber doch den Platz auf dem Schrank für andere Dinge. Daher zog die alte Uhr auf ein Gartenregal in der geschützten Ecke neben den Kamin hinterm Haus und vervollständigte dort im Verein mit einer ausrangierten Teekanne und Tassen eine Collage zu Alices verrückter Teegesellschaft. So verwandelte sich ihre abendliche Magie im Licht des Tages in absurdes Theater, wo die Zeit stehen bleibt und der Irrsinn Gestalt annimmt. Wo die Teilnehmer des Fünf-Uhr-Tees redend nichts sagen und miteinander sprechend doch nicht kommunizieren. Wo sie am Tisch Platz um Platz weiter rücken, gefangen in einer Zeitschleife, aus der wir ausbrechen möchten.

Dann im Zuge der Baumaßnahmen verräumte irgendjemand die alte Uhr in eine vergessene Ecke des Gartens, wo sie Wind und Regen ausgesetzt schnell ihre Schönheit einbüßte. Nun war ihre Zeit doch noch gekommen. Aber das was sie ausmachte, das, was ihr, solange sie lief, beinahe etwas Lebendiges gab, das habe ich in mühsamer Tüftelarbeit gerettet und halte es in Ehren: eine Handvoll Zahnräder, die miteinander kreisend die Zeit verrinnen ließen und das Pendel, das wie ein Herz den Takt gab.

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Kommentare: 1
  • #1

    sandy (Dienstag, 16 November 2021 08:11)

    "So verwandelte sich ihre abendliche Magie im Licht des Tages in absurdes Theater, wo die Zeit stehen bleibt und der Irrsinn Gestalt annimmt. Wo die Teilnehmer des Fünf-Uhr-Tees redend nichts sagen und miteinander sprechend doch nicht kommunizieren. Wo sie am Tisch Platz um Platz weiter rücken, gefangen in einer Zeitschleife, aus der wir ausbrechen möchten"

    .....sooo schön geschrieben