
Lange war mir völlig unverständlich, warum es das Rehlein im Märchen "Brüderchen und Schwesterchen" so dringlich zur Jagd in den Wald zieht. Es müsste doch, sobald die Hörner blasen, die Sicherheit bei seinem Schwesterchen in der Hütte vorziehen. Statt dessen läuft es hinaus und spielt im Vertrauen auf seine angeborene Schliche und die Kraft der Jugend mit der Gefahr. Denn es kann rennen wie der Teufel und im Blut steckt ihm das trickreiche Abschütteln auch des schnellsten Beutejägers. Nach Eugen Drewermann stellen das Schwesterchen und sein Reh-Brüderchen die zwei Seelenanteile im Menschen dar, die je nach Persönlichkeit und gesellschaftlichen Umständen um Vorherrschaft streiten. Das bewahrende Schwesterchen versucht, seiner Verlustängste durch Anklammerung und Sicherheitsdenken Herr zu werden, während das in die Welt stürmende Rehlein sich seiner Geschicklichkeit im Erobern von Liebesobjekten stets neu versichert, um seine Ängste zu betäuben. Sind die Anteile reflektiert und beide Seiten ausgewogen, befindet sich der Mensch im seelischen Gleichgewicht. Weder muss er zwanghaft Altes für Neues tauschen, noch bleibt er in krankhafter Abhängigkeit von schädigenden Strukturen. Womit das Rehlein aber nicht gerechnet hat, das sind die neuen Jagdmethoden. Die Rehleinnatur lehrt es den Umgang mit tierischen Verfolgern, die es sehen kann, nicht aber mit Feinden, die ihm aus dem Hinterhalt auflauern. Dafür braucht es anderes Rüstzeug und hier müsste man das Märchen eigentlich weiter erzählen, denn zwei Seelenanteile reichen in der modernen Welt im Umgang mit der Angst nicht aus. Wenn der Angreifer sich mit verbesserten Methoden über Augenhöhe erhebt, dann gilt es neue Wege und neue Techniken im Umgang mit ihm zu finden. Vielleicht müssten sich die Rehe zusammentun, Sicherheit in der Gemeinschaft suchen und geschlossen aufmarschieren, um den Feind durch Übermacht in die Flucht zu schlagen. Vielleicht würde dann der dritte Seelenanteil sein Heil weder in den Grenzen des Bewährten, noch im stets Neuen finden, sondern in der wehrhaften und heilenden Gesellschaft Gleichgesinnter. Ich sehe schon eine Herde Rehe den Hochsitz stürmen ... Für unsere Anouk, die mit ganzem Ernst, aber gänzlich aussichtslos dem jungen Reh hinterherläuft wünschte ich mir wenigstens einmal die Begegnung mit einem solchen neuen Typus Reh, der sich umdreht und ihr mit seinem Huf einmal kräftig auf die Nase klopft. Dann würde sie sich fortan zwei Mal überlegen, mit wem sie sich anlegt.
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