risan

Wenn wir mit Anouk zwei Dörfer entfernt in den Wierener Bergen spazieren gehen, führt uns das letzte Stück unserer großen Runde am Elbe-Seiten-Kanal entlang. Fast immer tuckert dann auch ein Frachter vorbei, der für einen Augenblick das Fernweh in uns weckt. Wie schön müsste es sein, gemächlich die Wasserstraßen zu befahren, die abwechselungsreiche Landschaft zöge vorbei und mit ihr das Gestern. Wer weiter zieht, der lebt nach vorne gewandt im Hier und Jetzt. Der lässt die Dinge wortwörtlich hinter sich. Reisen heißt, sich selbst mit seinen Erfahrungen mit zu nehmen, den Ballast aber, der einen zu dem werden ließ, der man ist, zurück zu lassen. Wer das Leben als Reise einer Seele auf Erden begreift, der zählt seine Erfahrungen und die Lehren, die er aus ihnen zog. Sie sind sein wirklicher Reichtum. Wohlig satte in Halbtrance verbrachte Jahre bedeuten ihm dagegen wenig oder nichts. Sie machen ihn nur kraft- und mutlos und irgendwann klammert sich ein solch dem echten - ja, auch gefahrvollen - abenteuerlichen Leben entwöhnter Mensch an das letzte Bisschen Sicherheit, das ihm andere versprechen, statt sich im aufrechten Stand, im sicheren Gang selbst Halt zu geben.

Ich weiß nicht, wann Weltreiche untergehen, aber vielleicht dann, wenn eine Handvoll Menschen dem Größenwahn erliegt, derweil die breite Masse gleichgültig, träge und oberflächlich geworden ihr Glück ausgerechnet in deren Hände legt. Bildlich dazu steht mir der von Peter Ustinov im Film "Quo vadis" brilliant gespielte Nero vor Augen, der unfassbar dekadent im Angesicht des verheerenden Brandes von Rom mit fisteliger Stimme den Untergang Trojas besingt, während die durch Brot und Spiele verwöhnte, abgestumpfte Menge um ihr Leben läuft. Ob der Brand gelegt wurde oder zufällig ausbrach, bleibt ungeklärt. Eine Gruppe als Sündenbock braucht es jedoch nur, wenn von einer wahren Schuld abgelenkt werden muss. Die Christen waren es damals. Im Untergrund aber hielten sie ihren Glauben am Leben und Reisende, die alle Sicherheiten, die ihnen versprochen wurden, als trügerisch durchschauten, verbreiteten ihn überall. In diesem Sinne wollen wir im Neuen Jahr "die Reise" als etwas Unpersönliches und Starres aus dem Dingwortstatus herausheben und in seine urgermanische Tätigkeitsform zurückholen: risan - sich erheben!

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Ursula Kukureit (Montag, 03 Januar 2022 12:45)

    Liebe Anja, was für ein super Blogbeitrag!