Ilsebill

Auf meiner Hunderunde laufe ich durchs Nachbardorf, in dem zur Weihnachtszeit  verschiedene Märchen in Szene gesetzt werden. Ich bin gerührt ob der Mühe der Dorfleute und der Liebe zum Detail, mit denen sie den Menschen im Advent diese Freude bereiten. So bleibe ich länger als es Anouk Recht ist vor den Arrangements stehen, lese ein paar Zeilen aus dem passend dazu aufgestellten Märchen und lasse beim Weitergehen die Handlung und ihre Bedeutung Revue passieren. Beim namenlosen Fischer und seiner Frau Ilsebill scheint es auf den ersten Blick ganz einfach zu sein: Da ist eine mit ihrem Leben unzufriedene Frau, deren Gier keine Grenzen kennt und die sich schlussendlich selbst ein Bein stellt, um sich (verdientermaßen) dort wieder zu finden, wo sie herkommt: "Tosamen in'n Pißputt." So heißt es im Original. Und "dat stinkt und is so eeklig." Aus Kindheitstagen war mir nur ein Topf in Erinnerung, ein Kochtopf natürlich. Das war seltsam genug, assoziierte aber Sättigung und Zufriedenheit und ließ ein übergroßes Maß an Mitleid mit den beiden Fischersleuten in ihrer kleinen Behausung nicht aufkommen. Nun also so etwas: Ein Nachttopf als Heim. Wer wollte der Frau verübeln, dass sie die erstbeste Gelegenheit ergreift, um sich aus dem stinkenden Loch mit Hilfe des in einen Butt verzauberten Königssohns heraus zu wünschen. Ist es doch das Vorrecht aller Frauen, von ihrem Prinzen zu träumen, der ihr die weltlichen Güter zu Füßen legt. Und auch wenn der wenig schmeichelhafte Grund fürs Habenwollen der grüne und gelbe Neid auf die Bessergestellten sein mag, wie es das Meer mit seinen Farben nahelegt, so bleibt es doch als Spiegel ihres Unbewussten glatt und ruhig bei der bescheidenen Bitte um ein kleines Haus. Der Butt gewährt den Wunsch und Ilsebill könnte nun mit ihrem Mann zufrieden sein für den Rest ihrer Tage. Wäre da nicht die Habsucht, die die Frau wie einen Wahn befällt, sie Königin und Kaiserin zu sein begehren lässt, und am Ende nicht einmal halt macht vor dem Verlangen, wie Gott Sonne und Mond zu befehlen. "Wer hoch hinaus will, fällt tief". Aber die Ilsebill, deren Seele wie das Meer tobt und wütet, dunkel und wild, sie ringt mit sich und fällt ... hoch. Geläutert im Kampf wird sie wie Gott, um fortan in Gestalt einer Armen auf der Erde zu wandeln.  

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Doris (Dienstag, 06 Dezember 2022 18:17)

    Hallo Anja, wie doch die Märchen die Menschen wiederspiegeln ! Oft denke ich wie grausam (Das Mädchen mit den Schwefelhölzern) doch sind wir da nicht so weit davon entfernt. Laßt uns alle gemeinsam die Menschlichkeit pflegen und der Dummheit und der Habgier in den Ars..
    treten. LG