Ein Märchen noch ...

Mit seinem hageren ernsten Gesicht und der Nickelbrille wirkt die Figur im Fenster eher wie ein Gelehrter als wie der Tausendsassa, der sieben auf einen Streich erwischt. Aber eigentlich ist das tapfere Schneiderlein nur ein armer Tropf, der in eine Selbsttäuschung hineinwächst und sie mit großen Taten füllt. Zur Hilfe kommt ihm dabei, wie im echten Leben auch, die naive Bereitwilligkeit der Meisten, jede Behauptung, sofern sie nur frech genug vorgetragen wird, für bare Münze zu nehmen. Trotzdem, man muss das Schneiderlein für seine Keckheit, seinen Wagemut bewundern. Er nimmt es mit Riesen auf, mit Einhorn und Wildschwein. Und er besiegt sie alle. Zum Lohn erhält er ein halbes Königreich, dazu die Hand der Prinzessin. Wohlgemerkt, die Hand, denn ihr Herz gewinnt er nicht und das macht den Helden am Ende zur traurigen Gestalt. Ahnen ließ sich das bereits am Anfang des Märchens, denn um eine echte Prinzessin - edel und rein - zu erobern, bedarf es neben Mut vor allem eines guten Charakters. Den aber lies das Schneiderlein schon zu Beginn vermissen, als er die alte Musverkäuferin mit der Aussicht auf ein gutes Geschäft die schweren Mustöpfe die drei Stiegen zu seiner Kammer hoch tragen lässt, sie mit wohlfeilen Worten umschmeichelt, ihr aber nur eine kleine Portion, gerade Recht für ein wenig Marmeladenbrot, abkauft. Böse ist das noch nicht, mitfühlend und freundlich aber ebenso wenig. Daran ändert auch des Schneiderleins Heldenreise nichts. Er lernt siegen, aber nicht lieben. Er bleibt fremd in seinem Schloss, das Königreich wird nie ein ganzes und in seinen Träumen ist er noch immer das kleine Schneiderlein, dem man die Elle über die Ohren schlägt. Und so schließt das Märchen auch nicht mit dem wohlbekannten Satz: "Und so lebten sie glücklich bis an das Ende ihrer Tage", sondern freud- und lieblos: "... keiner wollte sich noch an ihn wagen. Also war und blieb das Schneiderlein sein Lebtag ein König."

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Kommentare: 1
  • #1

    Doris (Dienstag, 27 Dezember 2022 12:16)

    Ich möchte noch mehr Märchen und Bilder davon. Es sind sehr schöne Szenen. Wie sind die zustande gekommen? Werden die jedes Jahr wieder aufgebaut? Und deine Gedanken zu den anderen möchte ich auch...LG aus dem Südharz