Mit jetzt fast drei Wochen haben die Küken nicht nur einen gehörigen Schuss gemacht, sie sind auch lebenslustig wie nie. Bis auf kurze Schläfchen zwischendurch laufen sie den ganzen Tag mit Mama und Papa herum, suchen überall nach schmackhaftem Grünzeug oder winzigen Insekten und schwimmen im Planschbecken schon beinahe wie die Alten. Sobald sie mich sehen, rennen sie mir in der Hoffnung auf ein paar Mehlwürmer entgegen, um sie mir dann sorglos aus der Hand zu fressen. Für sie bin ich wahrscheinlich so etwas wie eine gute Tante. Ich darf sie aus dem Planschbecken heben, wenn es mal wieder schnell gehen muss, weil die Eltern zu einer Runde durch den Garten aufbrechen wollen, an meinen Fingern kann man so schön knabbern und mit dem Jackenärmel gewichtige Kämpfe ausfechten. Und natürlich mache ich viele tolle Sachen, die man nicht verpassen darf: Futternäpfe füllen, Wasser in einem dicken Strahl aus einer Gießkanne fließen lassen, mit dem Besen ihren rüpeligen Vater verscheuchen, Strohberge im Stall auftürmen, quietschende Schubkarren vorbeischieben und irgendwo als Dach stehen lassen, nasse Laubhaufen zusammen fegen, schwarze Soldatenfliegenlarven in Pfützen regnen lassen, Stalltüren öffnen und Licht machen. Das Ansehen, das ich bei den Kleinen genieße, schmeichelt mir sehr und entschädigt mich für die abgekühlte Beziehung zu dem von Menschen aufgezogenen Johann, der bisher an mir wie an einer Mutter hing. Jetzt geht "mein kleiner Junge" ganz in seiner neuen Rolle als Vater und Beschützer seiner Familie auf, zu der ich definitiv nicht mehr gehöre. Das macht er mir durch Fauchen, Federnspreizen und gelegentliche Attacken, denen ich mit dem Besen begegnen muss, klar. Ein wenig sentimental stimmt mich das wohl, andererseits fällt mit seinem Erwachsensein eine Bürde von meiner Schulter, die mich bisher an Freiheiten in Form von Kurzurlauben oder ähnlichem kaum denken ließ. Nun ist er seelisch abgenabelt und findet sein Glück zu meiner Erleichterung auch ohne mich und meine Zuwendung. Aber nicht nur Johann hat neue Seiten in sich entdeckt, auch Alma hat sich verändert. Ihre freundliche Distanziertheit mir gegenüber ist einer Art vertrauter Verbundenheit gewichen. Vielleicht ist sie in der fünfwöchigen Brutzeit, in der ich ihr unermüdlich den in seiner Anhänglichkeit allzu aufdringlichen Johann vom Hals hielt, gewachsen. Vielleicht ist sie auch dankbar, dass ich ihr einen Mutter-Kind-Schutzraum eingerichtet habe, zu dem Johann keinen Zutritt hat. Ich weiß es nicht, aber eines scheint mir sicher. So sehr sie an ihrem Johann auch hängt, so froh ist sie über die Freiräume, die sie sich selbst durch manche Schliche oder ich ihr durch konsequentes Eingreifen verschaffe. Eines späten Nachmittags, die Dämmerung setzte gerade ein, wurde mir das besonders deutlich. Ein wenig vor der üblichen Schlafenszeit bugsierte Alma ihre Küken die Rampe hoch ins Gästehaus, hüpfte ihnen nach, zupfte beinahe theatralisch das Stroh für das Nachtlager zurecht und setzte damit ein deutliches Zeichen für Johann, in seinen eigenen Stall zu gehen. Der machte sich auch brav auf den Weg. Kaum aber war er außer Sichtweite, verließ Alma ihr Quartier, flog auf den Holzklotz vor der Tür und genoss den friedlichen Abend.
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Ursula Kukureit (Samstag, 31 Dezember 2022 17:38)
Liebe Anja, wie herrlich, daß du uns teilhaben läßt am Aufwachsen und Leben deiner kleinen Entenschar. Und wie gut du ihr Charaktere und ihr Verhalten beschreibst.
Für heute wünsche ich euch allen, daß ihr gut ihm Jahr 2023 ankommt und daß es uns allen Gesundheit und Frieden bringen möge.
Liebe Grüße sendet Ursula
Doris (Sonntag, 01 Januar 2023 13:18)
Ja, liebe Anja, auch ich bin begeistert von deinen Schilderungen! Auch wie die Situation mit Johann sich verändert. Bei den Tieren ist die Aufzuchtarbeit früher abgeschlossen und wir müssen sie wie unsere Menschenkinder ihren eigenen Weg gehen lassen. Gut das Johann trotz Menschenhand Tier geblieben ist. Einen guten Neubeginn und die besten Wünsche für 2023! Liebe Grüße aus dem Südharz