
Es ist schon seltsam ... auch im Märchen scheint es manchmal auszureichen, dass einer stellvertretend für die vielen Beteiligten zur Rechenschaft gezogen wird. Erst jetzt beim erneuten Einstieg in das mir eigentlich gut bekannte Märchen Rumpelstilzchen fällt mir auf, dass mit dem Selbstmord, dem Entzweireißen des kleinen Männleins aus der Wut heraus, ein Stein von meinem Leserherzen fiel. Die Unschuld der Müllerstochter schien gerächt, ihr Kind dem Bösen entrissen - die Welt im Lot. Aber so einfach ist das natürlich nicht. Einen nützlichen Idioten anzuklagen, ein Bauernopfer zu bringen, oder in einem Schauprozess einen der größeren Drahtzieher zu verurteilen, mag den Gerechtigkeitssinn oberflächlich befriedigen, für eine Aufarbeitung, die Ähnliches verhindern könnte, müssten aber auch die anderen Rollen hinterfragt werden. Das vergisst man im verständlichen Eifer, nach ausgestandenem Schrecken endlich wieder nach vorne schauen zu wollen, nur zu gerne. Das ist im Leben nicht anders als im Märchen. Aber wie schon Einstein wusste, ist die Welt mehr bedroht durch die, welche das Übel dulden oder ihm Vorschub leisten, als durch die Übeltäter selbst. Was wäre ein Tyrann ohne die Vielen, die mitmachen? Machtlos! Was also ist mit dem Müller im Märchen, der um seines Vorteils willen die eigene Tochter mittels einer Lüge verheiraten möchte. Hat er nicht Vorschub geleistet? Was ist mit dem König, der sie mit dem Tode bedroht, sollte sie ihm nicht die Schatzkammer mit Bergen von zu Gold gesponnenem Stroh füllen? Hat er das Übel nicht heraufbeschworen? Erst in dieser Notlage nämlich schließt die Tochter den Pakt mit der dunklen Seite in Gestalt des Rumpelstilzchens und verspricht ihm am Ende gar etwas Lebendiges, ihr erstes Kind. Und obwohl man ihre Angst nur zu gut verstehen kann, ganz frei von Eigennutz ist sie nicht. Auch sie hätte ja nein sagen können. Wie wäre das Märchen ausgegangen, wenn sie den Mut gehabt hätte, dem König die Wahrheit zu sagen. Vielleicht wäre der Müller für seine Dreistigkeit bestraft worden, vielleicht sie für ihre Ehrlichkeit belohnt ... Man kann bei jeder Geschichte, ob es ein altes Märchen ist oder eine moderne Erzählung aus unser aller Leben, stehen bleiben und sie für gegeben nehmen, man kann sich aber auch seines eigenen Verstandes bedienen, sie vor-, zurück- und in die Tiefe denken. Dann sähe das Ende manchmal anders aus.
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