
Was man nicht kennt, vermisst man auch nicht. So heißt es. Aber ich glaube nicht daran. Ich denke, der Mensch erinnert auf einer unbewussten Ebene, woher er kommt, wohin er geht und was die Essenz des Lebens ist. Er sehnt sich ohne es zu merken danach, diesem tief verwurzelten Wissen Ausdruck zu geben und es Teil des Lebens werden zu lassen. C.G. Jung spricht vom Kollektiven Unbewussten, das uns prägt und aus dem wir schöpfen. Wie gut wir das können hängt auch vom Zustand einer Gesellschaft ab. Sind die Wege und Mittel erst verschüttet, womöglich gecancelt, tabuisiert, verlacht, finden wir den Zugang nur schwer und die Seele weint vergebens nach Erlösung. Wir hören ihre Rufe nicht. Wir leiden und wissen nicht warum. Denn auch was man nicht kennt, kann man bitterlich vermissen. Ich komme darauf, weil ich im Austausch mit einer Freundin über Märchen sinniere. Geschichten, die so alt sind, dass sie von unzähligen Generationen erzählt und weitergetragen wurden. An langen Winterabenden, am Feuer sitzend, unterm Sternenhimmel, an besonderen Orten oder zu speziellen Zeiten, wie z.B. den Raunächten, der Zeit zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag. Dabei sind Märchen und Sagen, der Volksglaube und das Brauchtum tief miteinander verwoben und halten unter der Oberfläche der Erzählung eine ungeheure Vielfalt und Tiefe des Wissens bereit, die einen bewundernd zurücklässt. Frau Holle z.B. ist nicht einfach nur die liebenswürdige alte Frau, die dem guten Mädchen im Märchen die Hausarbeit beibringt und es für seine Anstelligkeit mit Gold überschüttet. Sie ist die uralte große Göttin, die den Jahreslauf bestimmt, die den Menschen die Handwerkskünste brachte, die in den Raunächten an der "Wilden Jagd" teilnimmt, um die Seelen der Verstorbenen einzusammeln und vieles vieles mehr. Aber selbst das ist nur ein winzig kleiner Ausschnitt dessen, was früher den Menschen geläufig war. Damit verwoben sind ganze Welten von spirituellem Bewusstsein, das hinein reichte in den Lebenslauf mit seinen zahlreichen Fest- und Feiertagen, den Bräuchen, dem Aberglauben, den Regeln, der Wirkung von Heilpflanzen und Abwehrzaubern. Der Alltag war mit Bedeutung aufgeladen, mit dem Wissen von Göttern und Dämonen, die als Sinnbilder der psychischen Seite unseres Lebens auf Erden Gestalt bekommen haben. Ich behaupte, dass die Seele früher satter wurde als heute. Und ich frage mich, wie es geschehen konnte, dass so viel von dem, was unsere Sehnsucht nach Anbindung an das geistige Reich befriedigen könnte, verschwunden ist. Eine Antwort fand ich in einem ausführlichen Bericht über die Industrielle Revolution, in dem erklärt wurde, wie die ersten Menschen des neuen Zeitalters für den mechanisierten Arbeitsprozess abgerichtet wurden. Ein Satz machte mich besonders betroffen: "Man kolonialisierte die Köpfe (der Kinder), indem man sie mit funktionalem Wissen vollstopfte, ... und man verpasste den Zöglingen eine Seele, die als innere Ergänzung des äußeren Zwangs wirkte." (Götz Eisenberg)
Man hat also den jungen Menschen aus niederen Beweggründen und im vollem Bewusstsein, was man ihnen antat, den Zugang zu ihrem innersten Wesen, ihrem Bedürfnis nach Transzendenz, Freiheit und Gestaltung genommen. Sieht man das mit aller Klarheit, versteht man auch andere Entwicklungen besser. Z.B. die Bündelung des göttlichen Raumes in den Händen einer Staatskirche unter gleichzeitiger Verdrängung und Tabuisierung aller anderen Formen des Austausches mit dem geistigen Reich als Aberglaube.
Heute leben wir in der nächsten, der vierten, der digitalen Revolution. Wie kann man mit dem Wissen um die Geschehnisse früherer Zeiten glauben, dass fundamentale Veränderungen und Umwälzungen versehentlich, oder zufällig, jedenfalls aber ohne Plan und Absicht über uns hereinbrechen. Auch heute werden noch die Köpfe kolonisiert mit Wörtern, denen neue Bedeutungen zugeschrieben werden, mit vorgegebener Moral, mit Denk- und Sprechverboten, die viele Bereiche des bisher Selbstverständlichen unsagbar werden lassen. Was gestern noch galt ist heute schon Sakrileg. Der Mensch wird sprachlos vor Angst, etwas Falsches zu sagen und in der Folge unfähig das Unsagbare auch nur zu denken. So wird wieder unschätzbares Wissen verschwinden und der Mensch in den Grundfesten über die Wirklichkeit und das Recht und die Notwendigkeit einer eigenen Meinung erschüttert, lässt sich willig in ein neues Zeitalter führen. Darin angekommen, schreibt wieder der Sieger die Geschichte und die besagt dann erneut: Die Zeit war halt reif, alle haben doch mitgemacht, es war alternativlos ...
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Doris (Dienstag, 10 Januar 2023 14:27)
Wir leben in einer entzauberten Welt. Erst wenn man sich wieder (mehrmals!!) mit diesen alten Wissen und Bräuchen beschäftigt spürt man die Seele wieder und die zeigt Wege, welche in der Gesellschaft heut nur schwer zu finden sind. Wer aber viel mit der Natur lebt und auch Verborgens sieht, erkennt sie wieder.... LG aus dem Südharz