Stilleben

Auf meiner Küchenarbeitsplatte hat sich wie von selbst ein Sammelsurium an Dingen vereint, das an ein modernes Stilleben erinnert. Jedes dieser Objekte ist Symbol an sich und in der Komposition die Quintessenz eines guten Lebens. Was es dazu so braucht, sehe ich hier: Lebendige Nahrung (Eier), Hoffnung (Engel), Wärme (Thermometer), Verstand (Schultafel), Sehnsucht nach Transzendenz (Wein) und Mut, die Dinge beim Namen zu nennen (Buch). 

Zuvorderst eine Holzschale mit Almas Eiern, von denen ich täglich eines neben dem Entenküken im Nest finde. Sie sind viel mehr als nur ein gesundes Lebensmittel, sie sind Kleinode und Wunder des Leben. Rechts davon, halb zurückgetreten hinter einer knorrigen Baumwurzel, steht ein Engel. Er trägt ein Licht vor sich her. Ob ich ihn sehen kann, hängt von meinem Blickwinkel ab. Aber er ist immer da und zeigt mir, wo ich hinschauen muss. Er fordert mich auf, niemals die Hoffnung zu verlieren. Daneben an die Wand gelehnt eine alte leere Schultafel, die tabula rasa oder das sprichwörtliche unbeschriebene Blatt, dem man sich ent-wickelnd annähern kann, indem man die Schichten des Glauben-Wissens nach und nach abstreift, um die Tafel dann ganz neu zu beschriften. Das Thermometer verweist auf den für diesen Lernprozess notwendigen warmen geschützten Ort als Sinnbild für den inneren angstfreien Raum. Der sich noch im Winterschlaf befindliche Trieb von einem der Zweige des Pentagramms lehrt die Kunst des rechten Augenblicks und mahnt zur Geduld. Weiter links im Bild zeugt eine von Bacchus flankierte Flasche Wein von der Sehnsucht, über den Alltag und seine Begrenzungen hinaus zu wachsen. Gleichzeitig symbolisiert sie mir das Leben, das noch bis zur Neige ausgekostet sein will. Solange haben wir das Recht und auch die Pflicht zur Lebenslust, wie der Titel des Buches beschwört. Wir dürfen sie uns nicht nehmen lassen. Nicht von den dort beschriebenen Gesundheitsaposteln, nicht von Moralisten und Ideologen aller Art und auch nicht von den so sehr in Mode gekommenen Experten, die immer nur das Schlimmste sehen und mit ihren standardisierten Glaubenssätzen über die Art und Natur unseres Schuldigseins in den höchst privaten Dialog zwischen mir und meiner inneren Instanz eindringen. Das ist nicht nur unwürdig und übergriffig dem Einzelnen gegenüber, es schwächt auch die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit, weil beschämte Menschen gelähmte Menschen sind, deren Beitrag für ein gutes Leben der Gemeinschaft verlustig geht. 

In diesem Sinne: Lasst uns die Tafel reinigen von Glaubenssätzen und Scham und stoßen wir an auf das Leben, das uns geschenkt wurde, die Lust, es auszukosten und die Liebe, die alles vermag!

       

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Ursula Kukureit (Freitag, 27 Januar 2023 16:04)

    Liebe Anja, wie immer ist es eine Lust, deinen Gedanken zu folgen und festzustellen, daß du meine Überzeugung wundenbar formulieren kannst. Danke dafür.
    Alles Liebe, Ursula