Invertebraten

Im Frühling, Sommer und Herbst gibt es für die Enten in unserem Garten Grünzeug und Insekten in Hülle und Fülle. Selbst im Winter finden sie noch Invertebraten, also Wirbellose in Form kleiner Fliegen, Asseln, Spinnen und Würmern. Aber sie sind rar und schwer zu finden und ist die Erde erst gefroren und nichts regt sich mehr, brauchen auch unsere Selbstversorger zusätzliches Futter. Ganz besonders, weil die Jüngste im Bunde noch im Wachstum ist, Mutter Alma schon wieder Ei um Ei produziert und Johann aus den Sorgen, seine kleine Familie zu beschützen, nicht herauskommt. Daher wollte ich ihnen etwas Gutes tun und ließ mir ein Kilo Mehlwürmer schicken, die ich im Keller in einer großen Box mit Haferflocken, einem Stück Apfel, Buchenblättern und ein paar Gemüseabfällen aufs Beste versorgte. So schmeckten sie wohl auch den Enten, die mir fortan begeistert entgegen liefen, wenn ich nur Anstalten machte, in Richtung Keller zu gehen. Nach zwei Monaten war Elzie, die Kleine aus dem Gröbsten raus, das Kilo Würmer von drei Enten und acht Wachteln vertilgt und ich froh, das Thema wieder abschließen zu können. Denn auch wenn es nur Insekten sind, war mir nicht wohl bei dem Gedanken, lebende Tiere ausschließlich als Futter zu betrachten und sie damit im Grunde gegen meine Überzeugung als Objekt, als Mittel zum Zweck zu behandeln. Ich stellte mir vor, ob ich wohl auch in der Lage wäre, lebendige Mäuse an Schlangen zu verfüttern. Oder würde die Maus zuvor zum geschätzten Subjekt, das mir ans Herz gewachsen wäre und dessen Leben ich nicht mit dem der Schlange aufwiegen könnte. Und wo würde ich aufhören? Bei den Kaninchen für den Hund, bei der Ziege für den Wolf? Vielleicht machte ich mir aber auch nur etwas vor und ich wäre schlicht und einfach zu zimperlich, um als  Mittelsmann ein aktiver Teil des unerbittlichen Naturzustandes von fressen und gefressen werden zu sein, der ja auch dann stattfindet, wenn ich nicht mitmache. Und dass dem so ist, davor kann ich die Augen nicht verschließen. Schon deshalb nicht, weil Anouk mich bei unseren Spaziergängen beinahe täglich zu den sterblichen Überresten der Opfer der Nacht führt. Wo ist also der Unterschied zwischen Mehlwürmern und Mäusen, "höheren" und "niederen" Tieren, dem einen Geliebten und den vielen Unbekannten? Und was haben Mitleid, Herz, Moral und gesunder Menschenverstand damit zu tun? Ich habe für mich verschiedene Antworten gefunden: 

- wer lebt, wird notwendig schuldig

- frage dich, ob du in der Haut des anderen stecken möchtest

- fürchte dich vor nichts mehr, als unmenschlich zu werden

- Moral abstrahiert Mitgefühl und ist Hilfsmittel in unpersönlichen Zusammenhängen

- Ideologie ist naiv

- sich Gedanken machen ist der halbe Weg zum Himmel

 

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